EDITION

Graziella Berger | EDITION

Lithografie Edition
Serie von neun Papiertragtaschen
Auflage 15

Lithografien von Graziella Berger

Als ich im Mai (2005) angefragt wurde, in der druckstelle eine Edition von Lithografien zu realisieren, stellte sich für mich die Frage, wie ich mit einem mittlerweile reinen Künstlerdruckverfahren umgehen will, das wie der Holzschnitt oder die Radierung, im profanen Alltag keine wesentliche Rolle mehr spielt. So entstand früh die Idee, dieses Edeldruckverfahren in irgendeiner Art und Weise mit dem profanen Alltag zu verbinden.

Ich entschied mich anstelle des gebräuchlichen Büttenpapiers für die industriell hergestellte Papiertragtasche, weil sie diesen profanen Alltag verkörpert, sich bedrucken lässt, und auch, weil sie einen skulpturalen Aspekt beinhaltet (für eine Bildhauerin immer wichtig!). Ich stellte mir vor, wie die Leute mit lithografierten Tüten in der Stadt herumlaufen und anzutreffen sind.

Die „Tüte“ ist ein Verpackungs-, ein Transportmittel, in das man aber in den meisten Fällen nicht hineinsieht. Man hat etwas, aber man zeigt nicht, was genau. Der Inhalt bleibt privat, auch wenn man ihn in der Öffentlichkeit mit sich herumträgt. (Meistens steht ein Label darauf, mit dem man sich vielleicht identifizieren möchte, oder es ist einer der gängigen Namen einer Supermarktkette, aber was kann man dort nicht alles kaufen).

Dann die Frage, welche Inhalte ich lithographisch auf die Tüte bringen kann, um sie mit dem „Alltag“ kollidieren zu lassen. Ich griff zunächst auf Interviews zurück, die in einem anderen Zusammenhang (Interkulturelles Projekt: Wechselbank) mit Secondas und Secondos zu Themen wie Person, Identität, Heimat, Wurzeln und Mobilität geführt habe. Der dort geäusserte Satz: „Ich mag es wild“ entwickelte sich zu einem eigentlichen Reiz-Satz, dessen Mehrdeutigkeit einem Lust macht, ihn nach diesem Konzept auf eine Tüte zu drucken. Was dann passierte: Der Satz reagierte inhaltlich mit der „Tüte“.

„Ich mag es wild“, auf eine Einkaufstüte gedruckt, bietet umfangreiche Assoziations- und Projektionsmöglichkeiten. Der Versuch, ähnliche Assoziationsmöglichkeiten mit Bildern zu liefern, führte ins Internet. Verzückte Frauen, Fellatio etc., wobei die Bilder mittels Ausschnitten und grober Rasterung so umgeformt wurden, dass sie nicht mehr eindeutig lesbar sind – was ist wirklich da, was sieht man nur, warum sieht man das, was man sieht?

Man kehrt die „Inhalte“ (ich rede wieder von der Einkaufs-Tüte), die man so mit sich herumträgt, nicht immer gern nach aussen (in unseren Breitengraden sowieso nicht); Und vielleicht besteht die Provokation dieser Tüten u.a. darin, dass sie genau das tun, dass sie nach aussen kehren, was besser im Sack bliebe.

Wie gelingt es Bernini, die „Verzückung“ der heiligen Theresa (1646 Rom, Santa Maria della Vittoria), ausgelöst durch den „goldenen Pfeil eines Engels, der mehrmals in ihr Herz gestossen wird und süsseste Wonnen zu verursachen scheint“ 3), so explizit darzustellen? Man kann sich den Kopf der Theresa gut auf der Museums-Shop-Tüte vorstellen; Während man den genau gleichen Gesichtsausdruck der Darstellerin in „angels of porn“ doch eher ungern nach aussen kehrt.

„Ist das jetzt Heimat?“, eine Frage im Zusammenhang mit Offenheit, auch in der „Öffentlichkeit“, wo ist man offen, was verbirgt man , Offenheit, Öffentlichkeit, Grenze zum Privaten, Intimen; Kunst als Zwischen- und Vermittlungsglied, Heimat, Wurzel (sind Menschen der südlichen Breitengrade wirklich offener?).

Die wuchernde Lithografie-Edition „Ich mag es wild“, ist eine Verdichtung einer visuellen oder imaginierten Kommunikation, die sowohl unsere Sinnlichkeit als auch unsere Interpretationslust, unsere Vorurteile und unseren Reiz am Verborgenen herausfordert. Die Imagination entsteht durch das banale Alltägliche.

«Das Rhizom ist ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat, es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.»1)

«Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nicht signifikante Zustände (états de non-signes).» 2)

Der Begriff „Rhizom“ stammt aus der Botanik und meint eine bestimmte Art „Wurzel“ (eigentlich unterirdische Sprossen), die man als „nicht hierarchisches Wurzelgeflecht“ bezeichnen könnte. Der Begriff wurde von Deleuze/Guattari für die Philosophie adaptiert.
G.B./ im Sept.05

Literaturhinweise:
1) Deleuze/Félix Guattari, Rhizom 1977 (S.35)
2) Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom 1977 (S.34)
3) W. Weisbach: Das Barocke als Kunst der Gegenreformation. Berlin 1921. S. 135f.

2005